Donnerstag, 9. Juli 2015

Zeitsprünge





Mit jedem Meter verändert sich das Ich in diesem Moment. Jeder Kilometer auf dieser Strecke über die Alb bringt mich einen Meter weiter in die Vergangenheit zurück. Ich rieche das Jahr 1993 in der Luft, als ich das Fenster öffne, heute ist ein kühler Tag, der Himmel verhangen, so als führe ich an einem herbstlichen Sonntag nach dem Reisewochenende in ein neues Schuljahr. Aber es ist Hochsommer. Heute ist keine Schule – ich bin auf der Reise, wie so viele von uns, die im Hier und Jetzt – wenn auch nicht immer – zu vergessen scheinen, wo die Heimat ihres Herzens war. Und ist.

Selten habe ich so viel Geborgenheit gefühlt wie in diesen Jahren zwischen `89 und `94. Selten mich so sicher und gleichzeitig so verlassen gefühlt. Nie wieder danach dieses unbedingte Gefühl von „Einer für alle“ so deutlich gespürt. Das Wir wirkt nach.

Das Leben kann uns keiner nehmen, der Ort hat Spuren hinterlassen in unseren Biographien, wir haben kaum Spuren am Ort hinterlassen – das ist beruhigend. Irgendwie. Es sagt: Was immer passiert, die Welt dreht sich weiter, aber ich bleibe. Und: es liegt alles nur am Wetter.
Ich höre die Schritte aus der Vergangenheit, die sich nähern, es blitzen Augenblicke durchs Laub, hinterm Turm, an der Schmiede, wie Vögel flattern sie um mich herum, die Vergangenheit verschwimmt mit dem Jetzt – und phasenweise weiß ich nicht, ob ich überhaupt noch ich bin. Da fehlen Teile von mir, die hier sein müssten....
Links liegt Dottingen. Einst ein Finkennest. Jetzt ein Dorf wie viele andere auf der Alb.

Bei Ankunft ist alles viel weißer als früher, neuer – und dennoch spürt man in jeder Ecke eine Erinnerung aus der vergangenen Zeit.Wieviele Ichs haben schon Teile ihrer Seele hier versteckt – und Erfahrungen und Leben dafür mitgenommen?
Wieviele Erinnerungen haben die Taschen aus den Klostermauern heraus getragen – wie viele Lacher, Tränen und Seufzer wieder mitgebracht?


Plötzlich werden sie ganz lebendig, diese Träume vergangener Tage, Jahre – war es nicht ein ganzes Leben?
Der Duft der Winterlinde vor dem Pavillon klingt so wie früher. Allerdings hatte ich ihn da mit einem Hauch von Zigarette übertönt.
Das Rauschen der Aach ist brauner geworden – aber sie fließt, hinaus in die Dreikönigsmühle, weiter – und kein Tropfen wird je wiederkommen. Aber die Erinnerung an diesen Moment, als er durch den U-topf schwamm, die wird er nach draußen tragen...