Freitag, 20. Juli 2018

Sommerzeit - Notenzeit - Zeit der gebrochenen Kinder


Die Schule - Ein Problem unserer Gesellschaft


Der Kommentar eines Menschen kann maßgeblich dazu beitragen, dass ein Kind freudvoll lernt. Oder er kann das Gegenteil bewirken. Manchmal bedarf es nicht einmal eines Kommentars - da reicht auch ein Blick bei der Notenübergabe. Wie jedes Jahr im Sommer, wenn zig gekränkte Seelen in sechs lange Wochen entlassen werden.

Lehrer sind Menschen in besonders verantwortungsvollen Situationen und Positionen – sie sind verantwortlich dafür, dass aus Lernern glückliche Lerner werden und aus diesen schließlich unsere künftigen Gynäkologen, Quantenphysiker, Automechaniker, Erzieherinnen und vielleicht auch wieder Lehrer oder Lehrerinnen.
In der Lehrer Hand liegt die Macht, die Welt zu verändern.
Das ist kein Pathos – das ist die Realität. Und in Zeiten, in denen Nachrichten über Grundschulen veröffentlicht werden, in denen es darum geht, dass Kinder auf Lehrkräfte einschlagen, müssen wir uns als Gesellschaft fragen:

WAS LÄUFT IN UNSEREN SCHULEN SCHIEF?


Es läuft sehr viel schief. Denn in Schulen arbeiten Menschen – und zwar Menschen, die das Recht haben, auch als solche behandelt zu werden – damit sie die ihnen anvertrauten kleinen Menschen ebenfalls wieder als solche behandeln können.

Allerdings klappt das häufig nicht – denn auch in unserer Gesellschaft läuft viel schief. Die Schulen wiederum sind letztlich die Spiegel und Produktionsstätten dieser Gesellschaft.
Wir befinden uns also in einem Kreislauf, in dem vor allem eines vorherrscht: das Zuschieben gegenseitiger Verantwortung. Dabei geht viel anderes verloren. Menschlichkeit zum Beispiel. Aber wir hören es ja immer wieder:


Wir müssen effizienter werden. Wir sollen schneller werden. Wir sollen gesund bleiben. Wir sollen leisten und gleichzeitig glücklich sein. Wir sollten politisch werden. Wir sollten sexy sein. Und klug. Und am allerbesten sollten wir viel Geld verdienen, damit das Bruttosozialprodukt stimmt. Der Staat tut das Übrige. Lehrerstellen? Wozu denn? Sparen – damit die Regierungsbilanz stimmt. Und dazu muss man natürlich frühzeitig schon den Kleinen vermitteln, wo sie stehen. Dann kommt es zu Stress - denn alle, allen voran Lehrer und Kinder, sollen im Auftrag der Gesellschaft genau das alles erfüllen.

Hilfe! - Fehlanzeige!


Pädagogische Begleiter für autistische Kinder am Gymnasium (und sonst für niemanden!), natürlich, die gibt es! 18-Jährige in der Selbstfindungsphase, die noch keinen Studienplatz haben. Sie sind billig. Natürlich kann ein Klassenlehrer Postkarten für Tierhilfsorganisationen verkaufen, Versicherungsbelege sortieren, Schüler- und Elterngespräche führen, sich fortbilden und auch mal eine Korrektur mehr machen.
Freilich, noch ein Projekt hier, ein Mobbingfall dort, drei Zusatzstunden der Lehrer in der Woche sind ohnehin gratis dabei – die darf man dem Staat nicht in Rechnung stellen. Kein anderer Arbeitnehmer dürfte derart ausgebeutet werden. Die Wochenstundenzahl der meisten Kinder würde ebenfalls jede Gewerkschaft auf den Plan rufen. Aber wir schauen gerne zu - als Eltern. Als Mitmenschen. Sind nicht betroffen. Schließlich sagt man uns: so ist das eben heute!

Oh, und wenn schon dabei, vielleicht auch noch eine kleine Nachhilfestunde mehr? Die Woche im Schullandheim – also bitte, das ist doch URLAUB! Was, abends kann man Sie nicht erreichen? Unmöglich!
Aber irgendwann ist das Maß voll.
Irgendwann liegen die Nerven der Lehrer und der Kinder blank – und die Kinder zerren an ihnen. Gerade im Sommer.
Sie sind nicht schnell genug, haben das Einmaleins oder die Kurvendiskussion immer noch nicht gelernt, diese blöden Gören.
Die Eltern drohen, und überhaupt – man spürt sie, die eigenen Grenzen und Unzulänglichkeiten.  
Moment.... die EIGENEN?
Sind nicht diese verzogenen Kinder das eigentliche Problem?
Diese Kackbratzen, die, so wie die Eltern, völlig undankbar immer mehr fordern?

Irgendwann kippt das Klima. Irgendwann halten es weder Kinder noch Lehrer mehr aus. Mit allen Überforderungen und Anforderungen, die die Menschlichkeit rauben. Man schiebt sich Schuld zu. 

Aber die Zukunft fordert doch Leistung!

Ach, und wenn wir Lehrer sind, sollten wir doch gefälligst dafür sorgen, dass die Kindlein darauf ausgerichtet werden, in diese Gesellschaft zu passen. Sie sollen sich daran gewöhnen, dass man leisten muss – auch in der ersten Klasse!
Wie heißt es so schön bei nahezu allen Einschulungen? Die Schule ist der Ernst des Lebens – und fürs Leben lernen wir schließlich!
So kommt es, dass der Druck, den Politik und Gesellschaft auf Lehrer UND Kinder abwälzen, zu Katastrophen führen. Dass bereits Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren Suizidgedannken entwickeln, weil sie Kommentare wie diesen lesen müssen:

((c) Bild: M. Heisler)

Statt Hilfe zu erfahren.

2018 - es kippt!

Manchmal geht bei all dem Ehrgeiz etwas schief.  Es geht jetzt schief, im Jahr 2018, heute, wenn es an manchen Schulen Baden-Württembergs die Zeugnisse gibt. Und sowohl Lehrer als auch Kinder leiden. Problembewusstsein, dass so ein Kommentar die Menschenwürde verletzt? Fehlanzeige! Weder bei Lehrkraft noch Schulleitung noch Schulamt – das ist doch „harmlos“. Und auch die Eltern sehen selten, was passiert. Wenn sie es sehen, ist der Lehrer "schuld". Die Verantwortung von Politik und Gesellschaft bleiben in der Regel unbenannt.

Das Problem ist nicht diese einzelne Lehrerin, die den Kommentar unter das Heft des Kindes schrieb. – das Problem ist, dass sie kein Einzelfall ist. Dass sie eine Vielzahl von Lehrern repräsentiert, die sich in der vermeintlichen Loyalität zum Staat den eigenen Verstand, die Empathie und die Distanz zum eigenen Tun militärisch haben abtrainieren lassen. Sie produzieren angepasste, duckmäuserische, nur im verborgenen eskalierende Kinder. Oder welche, die irgendwann ihre Lehrer schlagen, weil sie spüren, dass diese es ihnen gleich tun würden, wenn sie könnten. Sie arbeiten nicht an und mit kleinen selbstbewussten Menschen, denen man guten Gewissens überlassen kann, einem irgendwann mal den Uterus heraus zu operieren. Weil sie darauf getrimmt sein werden, schnell zu arbeiten. Weil sie Spartenwissen haben werden – und ständige Angst vor dem Versagen. Weil sie unfrei in sich selbst sein werden. Weil sie keine Lehrer haben, die Zeit für sie haben - sondern welche, die dem Diktat der Leistung hinterher rennen und längst genauso verzweifelt sind, wie die Kinder.

Das Problem ist das Verhamlosen der zwischenmenschlichen Katastrophen und ihrer Folgen – weil man ratlos ist. Weil man sich auf den Ist-Zustand besinnt. Man MUSS aber doch leistungsfähig sein. Oder etwa nicht? NEIN, man MUSS es nicht.

WIR MÜSSEN GAR NICHTS!


Das Leistungssystem und das Menschenbild in diesem Land – sie werden sich nicht von einem Tag auf den anderen ändern. Aber die Politik könnte es.
Durch Entlastung der Lehrer.
Durch Verantwortungsübernahme für die eigenen Versprechen in Form von reduzierten Belastungen der Kollegien.
Beispielsweise durch echte Sonderpädagogen und Sekretariatskräfte.
Durch die Rückkehr zu G9 und das Verlassen der vierjährigen Grundschule.
Durch die Einführung von Ethik ab Klasse 1.
Durch Zeit für Elterngespräche und Geld für Ausstattung gesprächsförderlicher Räume.
Und nicht zuletzt kann auch die Gesellschaft einen ersten Schritt tun: Wertschätzung für alle Lehrerinnen und Lehrer und alle Kinder, die heute, morgen oder in einem Jahr in die Ferien entlassen werden. SIE ALLE haben es verdient!

Montag, 11. Juni 2018

Bölls Irisches Tagebuch und Das Grüffelokind - zwei Bücher, die ich wichtig finde #Blogparade #BücherdiemeinLebenveränderthaben



Allein schon beruflich lese ich ja irre viel. Muss man als Deutschlehrerin ja auch - und darf deswegen sogar alle Bücher steurlich absetzen. Berufslesen also: Kinderbücher, Jugendbücher, Märchen, Sagen, Weltliteratur. Und dann gibt es noch das Konsumlesen. Krimis, Thriller, Comics, Graphic Novels. Das Wissenslesen von Jagdgesetzen, Veterinärmedizin, linguistischen Fachkompendien und Reiseführern. Und dann das Zeitvertreibslesen von Zeitschriften, Zahncremetuben, aber eben auch von Büchern: Trivialliteratur.
Und nun soll ich also im Rahmen einer Blogparade über EIN BUCH, DAS MEIN LEBEN VERÄNDERTE schreiben. 

Das geht kaum. Denn letztlich verändert jedes Buch dein Leben.
Nach jedem Buch, das Du liest, hast Du eine andere Welt, eine andere Sichtweise und und vielleicht auch einen anderen Teil Deiner Selbst kennengelernt. Manche Bücher katapultieren Dich in andere Welten, manche Bücher bringen Dich nicht nur metaphorisch voran - und manche Bücher holden Dich wieder in die Wirklichkeit zurück. Du kannst fliehen, eintauchen, den Horizont erweitern - jedes Buch ist eine Reise irgendwohin.
Zwei Bücher haben mein Leben aber doch ganz konkret verändert.
Da war nämlich Heinrich Bölls "Irisches Tagebuch", das ich vor meiner ersten eigenen Irlandreise las. Als Kind und Jugendliche lokalisierte ich Irland geographisch in der Nähe des Irak und des Iran.
Phonetisch passte das - und semantisch auch: Länder, in denen Krieg wegen des Glaubens ist beginnen also mit "Ir-"!
Dann las ich Bölls Tagebuch - und es eröffnete sich eine ganz, ganz andere Welt. Böll beginnt das Tagebuch mit den Worten „Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.“ - und ich war gespannt, denn vorstellen konnte ich mir nicht, was er meinte, als ich das Tagebuch auf der Hinreise zwischen Stuttgart und Wexford las. 

Denn zwischen dem Erscheinungsjahr und meiner Reise lag fast ein halbes Jahrhundert. Umso erstaunter war ich, als mir die Menschen, die Böll beschreibt, begegneten (obwohl ich im Süden und er im Westen und Nordwesten war).
Eamonn, der alte irische Rebell, Pete, ein Busker aus Wales, der sich nach seinen Kämpfen im Falkland-Krieg nach Irland zurück zog, Butch, der Hostelier, bei dem ich in Wexford arbeitete und Ritchie, ebenfalls aus Wales, der im gleichen Hostel arbeitete und Eve from Belgium, die dort die Betten machte. Alles waren sie Unikate, die ich während meiner kurzen Ferien-Arbeit im Kirwan House kennenlernte. Nicht aus Bölls Buch, aber Leute, die ich wohl nur durch Bölls Auftakt so wahrnehmen konnte, wie sie waren. Böll öffnete meinen Blick für die Menschen, wie sie waren, weil er 50 Jahre vorher eben dies als zu erhoffen beschrieb. Irland nimmt und gibt die Menschen in ihrer ganzen Person, nicht in ihrer Fassade. Und so zeigt Irland Dir auch die Ruinendörfer, die von früher künden und Dir geschichten schenken, wie Böll sie fiktiv erlebte. Das irische Tagebuch eröffnet mit seinen Kurzgeschichten rund um Land und Menschen diese Hoffnung, die Sehnsucht, die wir alle haben. gesehen zu werden, wie wir sind und zu spüren, was ist. Es geht in Irland, nicht in dem Buch allein, um das Wesentliche und um die Freude am Leben im Moment. Es geht um den Regen in deinem Gesicht, wenn am Horizont der Regenbogen glänzt und Du weißt, dass da Sonne ist. Es geht darum, sich Zeit zu nehmen, die einem gehört.
Auch 2017 noch. Da war ich nach langer Pause einmal mehr in Dublin, zusammen mit meiner Freundin Julia und den Schülern unserer Obersufe, da gab es dieses Irland noch.
„Es gibt dieses Irland", dieses unmittelbare, menschliche, warme und regnerische, das lebensfrohe und zugleich melancholische, das Irland der Vergangenheit und das Irland der Gegenwart. Sicher auch eines der Zukunft - aber genau darum geht es nicht. "Wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor", denn es liegt an dir, ob Du es sehen kannst oder nicht.

 ... das zweite Buch, eine Adaption des Märchens "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen", ist...

.. DasGrüffelokind! Zum einen ist es ein unglaublich schönes Buch über Mut, Neugierde und die Ängste der Eltern. Zum anderen ist es ein Buch, das meine Kinder zeitweise jeden Abend vorgelesen haben wollten. Manchmal zweimal, manchmal dreimal.
Fast wäre mir das Buch auf den Geist gegangen. Dann aber hatte ich die rettende Idee: ich würde mich einfach konservieren. Aufnehmen. Und dann meinen Kindern das Buch vorlesen, so oft sie wollten. Aber wie? Wo?
Naja... es war die Zeit des beginnenden YouTube-Hypes. Also: dort!
Mein Leben hat das Ganze deswegen verändert, weil ich so überhaupt mit diesem Medium anfing umzugehen. Weil mir dort unqualifizierte Kommentare begegnen - und ich lerne, sie nicht ernst zu nehmen. Weil ich durchschaue, dass es vielen Menschen gar nicht mehr um genau das geht, was man bei Böll erfährt. Und weil ich lerne, dennoch in dieser Welt zu leben. Denn sie hat Irland!
... DAS GRÜFFELOKIND
 











Mittwoch, 30. Mai 2018

Datenschutz - in leichter Sprache


Datenschutzerklärung - privat!
Wir machen es jetzt mal kurz: Du nutzt das Internet – und wir lernen nicht erst seit der Schule: Was im Netz war, bleibt im Netz. Das heißt: Du hinterlässt Spuren. Und diese Spuren werden gesammelt – und man kann Dich finden.
Wenn Du das nicht möchtest: VERLASSE BITTE SOFORT DIESE SEITE.
Wenn Du den Browser schließt – und die richtigen Einstellungen hast - werden Teile dieser Spuren, die Cookies [bescheuerter Name!], die seit Jahrzehnten rumirren und seit einem Jahr überall akzeptiert werden müssen, gelöscht.
Jetzt weißt Du das – und, auch das entbehrt nicht einer gewissen Logik: je aktiver Du bist, wenn Du also Kommentare verfasst, Einträge erstellst oder auf Links klickst, dann werden diese Bewegungen erfasst. Nachvollzogen – und sogar von Programmen ausgewertet, die Dein Nutzerverhalten analysieren. Das Ganze geschieht, damit Webseiten, auch diese, nutzerfreundlicher sind. Aber – das gebe ich zu: auch um Affiliate-Programme zu bedienen und damit die Betriebskosten abzudecken.

Der Rest –also dein Name und alles weitere, was Du freiwillig hier hinterlässt, geht mich nix an – und interessiert mich auch nicht. Solltest Du also freiwillig Daten hinterlassen – was Du besser nicht tust, denn das stresst uns nur alle! – bist Du selbst dafür verantwortlich. In anderen Worten: DU schreibst Deinen Namen hier ins Gästebuch. Dann ist das Dein Problem, denn jeder kann ihn lesen. Ich mache dann gar nichts mehr damit, außer den Beitrag freizuschalten, wenn er mir gefällt, oder zu löschen, wenn nicht.
Jetzt bist Du wahrscheinlich froh, auf meiner Seite zu sein, denn immerhin findest Du hier nichts Verwerfliches, Unanständiges oder Verbotenes. Allerdings gehst Du das Risiko ein, dass ich herausfinde, dass Du meine private Datenschutzverordnung klaust. Deswegen: lass das bitte.

Und denk dran: das nächste Mal, wenn Du eine Porno-Seite besurfst.... die haben die gleichen Speichermethoden. Nichts ist mehr, wie es mal war. In diesem Sinne....

.... am sichersten sind Deine Persönlichkeitsrechte und Daten im Wald. Geh doch mal wieder raus!

(Hier nochmal in kompliziert: Datenschutzrichtlinie)


Montag, 16. April 2018

Schwabenstreich in Nehren - oder: Wie Nehren eine Spielstraße bekam

----- Prolog -----

Ein Schwabenstreich ist eine dumme Handlung. So wurde dem Gemeinderat des kleinen Ortes Nehren im Steinlachtal im Frühjahr 2018 vorgeworfen, einen solchen verursacht zu haben, als man auf Anraten der Verkehrsbehörde beschloss, ein kleines Stück Straße zu einem Platz umzuwidmen. Mit 10:5 Stimmen - fraktionsübergreifend. Das zog den Zorn der Bevölkerung nach sich. Man hatte sie ihrer Freiheit beraubt, dort zu fahren. Dieser Schwabenstreich würde sich rächen - man würde den Straßenabschnitt nicht kampflos dem Nicht-Fahren überlassen, oh nein - einen Schwabenstreich habe der Gemeinderat produziert und sich lächerlich gemacht.

Obwohl es keine Argumente gab, holten die schwäbischen Wut-Bürger bei einer Bürgerbefragung mit 70:30 Prozent raus, was sie wollten: keinen Platz!

Ein Schwabenstreich ist aber vor allem eines: eine klug durchdachte, mutige und intellektuell absolut ausgreifte Aktion und Heldentat. In der Regel folgt dem hämischen Spott der Gegner ein Erbleichen und Erstarren - wenn sie merken, dass ihnen eben diese Klugheit fehlte....

----- Der Ort -----

Ich lebe in einem Dorf.
Das ist jetzt keine Beleidigung – weder für mich noch für das Dorf, auch wenn ich eigentlich aus dem Nachbardorf stamme.

Das Dorf zählt zu den schönsten Deutschlands, über "uns" wurden Dokus gedreht, man hat hier mit Bürgerkraft die Gasthausgenossenschaft Schwanen gestemmt und wir liegen an der Fachwerkstraße, weil wir einfach echt schöne, alte Häuser und noch dazu Geschichte haben. Hier ist der Philosoph Hans Vaihinger geboren worden und auch die Wiege des späteren Bierbrauers Ernst-Immanuel Wulle stand in diesem Dorf. Es heißt Nehren, liegt am Fuße der Schwäbischen Alb und entwickelt sich derzeit zu einem Tourismusmagneten.

Und im Großen und Ganzen sind auch die Ur-Einwohner ganz in Ordnung. Wäre da nicht dieser Starrsinn, nichts ändern zu wollen. Und dieser Hass, der sich unterhalb der gutbürgerlichen Spitzendecke in Niedertracht und schwäbischem Kleingeist durch die Gassen zieht. Denn es war ja klar, dass schon die Mutter des heutigen Gemeinderates, als sie selbst noch Rätin war, seinerzeit zu Onkel Karls Zeiten, falsch entschieden hat, als es drum ging, ob der Fußballplatz links oder rechts des Baches liegen soll. Und dann hat auch noch die Neubürgerin den Mann geheiratet, den die Tochter - Ur-Nehrenerin!- gewollt hätte. Und ZUDEM wohnt ein linker Gemeinderat in Onkel Ottos Haus. HAT DER EINFACH GEKAUFT! Sowas lässt man nicht durchgehen - das braucht, wohl schon seit je her, ein Ventil, wenn es genug ist. Dann muss der Druck raus - und man scheut sich nicht, um sich zu hauen und zu stechen.

Deswegen steht auf dem Dorfbrunnen auch das Motto der liebenswert-gehässigen Einwohnerschaft: "Naihremer Nodla, dia stechet so fei - dia stechet anander ens Hemmedle nei!" (Auf Hochdeutsch: man piesackt sich hier gerne feinstichelig und auch mal ohne Rücksicht auf Verluste - Kollateralschaden ist der zweite Dorfname!)

----- Dramatis Personae -----

Wie gesagt – eigentlich sind sie ganz in Ordnung, die Alteingesessenen. Man könnte sogar mit ihnen reden und sie wären, wie sich im Folgenden zeigt, vernünftigen Lösungen gegenüber nichtmal abgeneigt. Wäre da nicht das PRINZIP; dass man sich nichts gefallen lässt, als kleiner Bürger schon GAR NICHT, und erst RECHT nicht "bevormunden"! Sowieso gar nicht von einem Gemeinderat, den man selbst gewählt hat, und - wir erinnern uns - dessen Vorgänger schon zehnmal falsch entschieden hatten. Deshalb ist man hier seit Jahren automatisch gegen alles, was vom Rat kommt, erst recht, wenn es ein bißchen links oder grün oder anders riecht, als das, was man kennt. AUS BRINZIBB! Ond weil m'r a Nodel isch - reachde Naihremer lend sich noons ed g'falla!

Aber ein bißchen handtätschelnd harmoniesüchtig ist man dann doch auch - Frieden will man am Ende schon in "seinem" Dorf. Wer weiß, nicht, dass die nächste Nadel im eigenen Hintern landet...... das mit der Harmoniesucht ist gut so. Denn damit kann man arbeiten!

Hass und Niedertracht also, in allen Ausprägungen die sich in Nehren zwischen dem Dezember 2017 und dem April 2018 zeigten, sind schwer kalkulierbar. Denn es ging darum, dass der Gemeinderat einen verkehrsberuhigten Bereich im Dorf wünschte. IM DORF - nicht etwa außerhalb, wo sowieso keiner fährt und es einem egal wäre - nein IM DORF! Und noch schlimmer - man wollte 30 Meter einer Straße KOMPLETT sperren. Also richtig - ohne Durchfahrt. Und mit einem Umweg für 18 Autos von 250 Fahrmetern (laufen, also den direkten Weg, das geht nicht in Nehren - muss man verstehen!). Also würde man gelaufen sein, hätte man ja nicht mal einen Umweg und deswegen auch keinen Grund zur Aufregung gehabt.

Und so spaltete sich im Fühjahr das Dorf in die folgenden Personengruppen:

In Dafürworter - die die Entscheidung des Gemeinderates akzeptierten oder sogar öffentlich gut hießen.

Und in DaGegna - die eben dies nicht taten und die Entscheidung ihrer Mandatsträger öffentlich bloßstellten. Denn: never mess with a Naihremer Nodel!

----- Historie -----

Eigentlich wäre es wohl egal gewesen - der Nehrener Gemeinderat hätte auch beschließen können, Kugelakazien beidseitig einer Straße zu pflanzen oder Energiesparlampen auf den öffentlichen Wegen zu verwenden. Es hätte einen Aufschrei gegeben - denn: siehe oben: AUS BRINZIBB! Des hot m'r no nie ghet! Da ist der Nehrener treu, denn, so führt Carlos Walz Mitte des 19. Jahrhunderts zum Misstrauen der damaligen Bauern in Nehren aus: „Der genügsame, oft grüblerische Menschenschlag hat eine starke Abneigung gegen Neuerungen. Weniger die Liebe zum Althergebrachten als vielmehr die Angst, etwas zu verlieren, gipfelt in dem eigensinnigen Spruch: "Do hot mei Vadder g´migget, ond do migge i au, ond wenn´s de Buckel nuff ghot.“ Für Nicht-Schwaben: „Da hat mein Vater gebremst, da bremse ich auch, und wenn es den Berg hinauf geht“.

Man ärgerte sich also sehr über die Neuerung, die der Gemeinderat und der Schultes da beschlossen hatten.

Und wenn der Nehrener Bürger verärgert ist, dann wird es böse. Denn wie gesagt: Hass und Niedertracht sind schwer zu bändigen!

----- Dramatische Zuspitzung -----

Da gab es eingeworfene Schaukästen, kotbeschmierte Häuser, zerstochene Reifen, stillos gefälschte Leserbriefe und Drohungen selbst gegen Kinder und anonyme Briefe. Auch das Wohl der Kinder wurde instrumentalisiert und manche Leute sind sogar aus ihrem Kleintierzuchtverein ausgetreten - sagt man!
Welche Abgründe noch kommen, ist also offen.

----- Die (für einige) unerwartete Wendung -----

Anders aber ist es mit dem reflexhaften Dagegenschießen in Kombination mit der Spitzendeckenharmonie durchaus. Und so kam es am 15. April 2018, dass der Gemeinde und den Dafürwortern einer verkehrsberuhigten Zone etwas gelungen ist, was noch vor 30 Jahren niemand für möglich gehalten hätte: sie haben bekommen, was sie wollten - indem sie forderten, was vermessen war! Ehrlich gesagt: das klingt ein bißchen nach Strategie - war aber bestimmt nur Zufall!

----- Das Schauspiel: WIR sind das Volk! -----

Das Etablieren einer verkehrsberuhigten Zone mitten in einem Dorf voller Raser, Autofahrer und Blechkutschenfetischisten, in der sich 30 Jahre alle gegen eine Eingrenzung ihrer persönlichen Freiheit wehrten, schien unmöglich. Vor allem, wenn sie von dem Gemeinderat gewollt ist. Da MUSS man ja dagegen sein.

Was also tun? Beantragt man eine Spielstraße, ist ganz klar, dass sich mindestens alle Autofahrer aufschwingen würden.

Tut man gar nichts, bleibt im Dorf alles, wie es ist - das Tempo ist auf 30 reduziert, alle fahren 50 bis 70 und so richtig im Ort aufhalten will sich keiner. Schlecht.

Also muss man fordern, was wirklich verrückt ist - die erste Fußgängerzone des Tals, auf 30 Metern - und das ohne Geschäft. Klingt ein bißchen verrückt - fanden die DaGegna auch, und plötzlich waren sie alle Demokraten und mussten bei einem Bürgerentscheid dem gemeinderat zeigen, wo der Hammer hängt. Also wenigstens den Linken! Den Bürgerlichen und Christdemokraten, die sich ebenfalls für die Variante "Platz vor Straße" ausgesprochen hatten, muss man entweder Willenlosigkeit oder andere Gründe mentaler Absenzen nachgesehen haben - denn die wurden zumindest nicht öffentlich angegriffen. Sei's drum - der Rat beschloss also: Autos weg von dieser Straße und der Mob tobte. Unter der Gürtellinie, jenseits aller Argumente und letztlich oftmals stillos. Aber: die Harmoniesucht. Diese Harmoniesucht zusammen mit dem krankhaften "DaGegen" treibt zuverlässig Blüten und ist wie gesagt außerordentlich kalkulierbar, denn schon bald schwangen sich im Hintergrund des Mobs die Friedensengel - alte Gemeinderäte, seit 23 Jahren ruhende Ex-Bürgermeister und pensionierte Verwaltungsfachangestellte - auf. Alles akzeptierte Koryphäen der Autolobby und der chronischen Nehrener Neuzeitverweigerer, die unterstützt durch einen unabhängigen Verkehrsplaner zu dem Schluss kamen: Der Gemeinderat hat Mist gebaut - einen PLATZ braucht doch keiner. Aber so ein bißchen weniger Verkehr, also - da wäre doch das Friedensangebot, damit alle glücklich werden und niemand mehr die Geranien des Nachbarn vergiften muss: eine SPIELSTRAßE. Das wäre doch ein Kompromiss. Ein TOLLER Kompromiss - der natürlich deswegen toll ist, weil er NICHT vom Gemeinderat kommt (dessen Vorgenerationen ja schon nur Blödsinn gemacht hatten!). Also schrien die DaGegna: WIR sind das VOLK - und WIR WOLLEN EINE SPIELSTRAßE. KEINEN PLATZ!

----- Abgesang -----

Nun, wie das Gemeinderäten - auch den linken! - so ist: der Klügere gibt nach (und lässt die echte Arbeit die anderen machen).

Und so klärt sich dann auch, wieso die Dafürworter des Platzes schon die ganze Zeit davon sprachen, dass das Aufbegehren gegen die anvisierte Fußgängerzone ein echter Schwabenstreich werden sollte......... denn eins war klar: Die Dafürworter KONNTEN nur gewinnen.
DANKE NEHREN - DANKE, DaGegnAs - für eine richtig geile Spielstraße, die Ihr selber wolltet. Mit Tempo 4 - 7 km/h (stand heute in der Zeitung!) - Ich werde dort Fußballspielen lernen!

----- Epilog -----

Sollte an der Redensart etwas dran sein, dass entsprechende Motorgeräusche umgekehrt relational zur Potenz der Fahrer stehen, muss man sich hier keine Sorgen machen: das Problem des Starrsinns wird sich biologisch selbst lösen, Nehren wird aussterben!