Montag, 16. April 2018

Schwabenstreich in Nehren - oder: Wie Nehren eine Spielstraße bekam

----- Prolog -----

Ein Schwabenstreich ist eine dumme Handlung. So wurde dem Gemeinderat des kleinen Ortes Nehren im Steinlachtal im Frühjahr 2018 vorgeworfen, einen solchen verursacht zu haben, als man auf Anraten der Verkehrsbehörde beschloss, ein kleines Stück Straße zu einem Platz umzuwidmen. Mit 10:5 Stimmen - fraktionsübergreifend. Das zog den Zorn der Bevölkerung nach sich. Man hatte sie ihrer Freiheit beraubt, dort zu fahren. Dieser Schwabenstreich würde sich rächen - man würde den Straßenabschnitt nicht kampflos dem Nicht-Fahren überlassen, oh nein - einen Schwabenstreich habe der Gemeinderat produziert und sich lächerlich gemacht.

Obwohl es keine Argumente gab, holten die schwäbischen Wut-Bürger bei einer Bürgerbefragung mit 70:30 Prozent raus, was sie wollten: keinen Platz!

Ein Schwabenstreich ist aber vor allem eines: eine klug durchdachte, mutige und intellektuell absolut ausgreifte Aktion und Heldentat. In der Regel folgt dem hämischen Spott der Gegner ein Erbleichen und Erstarren - wenn sie merken, dass ihnen eben diese Klugheit fehlte....

----- Der Ort -----

Ich lebe in einem Dorf.
Das ist jetzt keine Beleidigung – weder für mich noch für das Dorf, auch wenn ich eigentlich aus dem Nachbardorf stamme.

Das Dorf zählt zu den schönsten Deutschlands, über "uns" wurden Dokus gedreht, man hat hier mit Bürgerkraft die Gasthausgenossenschaft Schwanen gestemmt und wir liegen an der Fachwerkstraße, weil wir einfach echt schöne, alte Häuser und noch dazu Geschichte haben. Hier ist der Philosoph Hans Vaihinger geboren worden und auch die Wiege des späteren Bierbrauers Ernst-Immanuel Wulle stand in diesem Dorf. Es heißt Nehren, liegt am Fuße der Schwäbischen Alb und entwickelt sich derzeit zu einem Tourismusmagneten.

Und im Großen und Ganzen sind auch die Ur-Einwohner ganz in Ordnung. Wäre da nicht dieser Starrsinn, nichts ändern zu wollen. Und dieser Hass, der sich unterhalb der gutbürgerlichen Spitzendecke in Niedertracht und schwäbischem Kleingeist durch die Gassen zieht. Denn es war ja klar, dass schon die Mutter des heutigen Gemeinderates, als sie selbst noch Rätin war, seinerzeit zu Onkel Karls Zeiten, falsch entschieden hat, als es drum ging, ob der Fußballplatz links oder rechts des Baches liegen soll. Und dann hat auch noch die Neubürgerin den Mann geheiratet, den die Tochter - Ur-Nehrenerin!- gewollt hätte. Und ZUDEM wohnt ein linker Gemeinderat in Onkel Ottos Haus. HAT DER EINFACH GEKAUFT! Sowas lässt man nicht durchgehen - das braucht, wohl schon seit je her, ein Ventil, wenn es genug ist. Dann muss der Druck raus - und man scheut sich nicht, um sich zu hauen und zu stechen.

Deswegen steht auf dem Dorfbrunnen auch das Motto der liebenswert-gehässigen Einwohnerschaft: "Naihremer Nodla, dia stechet so fei - dia stechet anander ens Hemmedle nei!" (Auf Hochdeutsch: man piesackt sich hier gerne feinstichelig und auch mal ohne Rücksicht auf Verluste - Kollateralschaden ist der zweite Dorfname!)

----- Dramatis Personae -----

Wie gesagt – eigentlich sind sie ganz in Ordnung, die Alteingesessenen. Man könnte sogar mit ihnen reden und sie wären, wie sich im Folgenden zeigt, vernünftigen Lösungen gegenüber nichtmal abgeneigt. Wäre da nicht das PRINZIP; dass man sich nichts gefallen lässt, als kleiner Bürger schon GAR NICHT, und erst RECHT nicht "bevormunden"! Sowieso gar nicht von einem Gemeinderat, den man selbst gewählt hat, und - wir erinnern uns - dessen Vorgänger schon zehnmal falsch entschieden hatten. Deshalb ist man hier seit Jahren automatisch gegen alles, was vom Rat kommt, erst recht, wenn es ein bißchen links oder grün oder anders riecht, als das, was man kennt. AUS BRINZIBB! Ond weil m'r a Nodel isch - reachde Naihremer lend sich noons ed g'falla!

Aber ein bißchen handtätschelnd harmoniesüchtig ist man dann doch auch - Frieden will man am Ende schon in "seinem" Dorf. Wer weiß, nicht, dass die nächste Nadel im eigenen Hintern landet...... das mit der Harmoniesucht ist gut so. Denn damit kann man arbeiten!

Hass und Niedertracht also, in allen Ausprägungen die sich in Nehren zwischen dem Dezember 2017 und dem April 2018 zeigten, sind schwer kalkulierbar. Denn es ging darum, dass der Gemeinderat einen verkehrsberuhigten Bereich im Dorf wünschte. IM DORF - nicht etwa außerhalb, wo sowieso keiner fährt und es einem egal wäre - nein IM DORF! Und noch schlimmer - man wollte 30 Meter einer Straße KOMPLETT sperren. Also richtig - ohne Durchfahrt. Und mit einem Umweg für 18 Autos von 250 Fahrmetern (laufen, also den direkten Weg, das geht nicht in Nehren - muss man verstehen!). Also würde man gelaufen sein, hätte man ja nicht mal einen Umweg und deswegen auch keinen Grund zur Aufregung gehabt.

Und so spaltete sich im Fühjahr das Dorf in die folgenden Personengruppen:

In Dafürworter - die die Entscheidung des Gemeinderates akzeptierten oder sogar öffentlich gut hießen.

Und in DaGegna - die eben dies nicht taten und die Entscheidung ihrer Mandatsträger öffentlich bloßstellten. Denn: never mess with a Naihremer Nodel!

----- Historie -----

Eigentlich wäre es wohl egal gewesen - der Nehrener Gemeinderat hätte auch beschließen können, Kugelakazien beidseitig einer Straße zu pflanzen oder Energiesparlampen auf den öffentlichen Wegen zu verwenden. Es hätte einen Aufschrei gegeben - denn: siehe oben: AUS BRINZIBB! Des hot m'r no nie ghet! Da ist der Nehrener treu, denn, so führt Carlos Walz Mitte des 19. Jahrhunderts zum Misstrauen der damaligen Bauern in Nehren aus: „Der genügsame, oft grüblerische Menschenschlag hat eine starke Abneigung gegen Neuerungen. Weniger die Liebe zum Althergebrachten als vielmehr die Angst, etwas zu verlieren, gipfelt in dem eigensinnigen Spruch: "Do hot mei Vadder g´migget, ond do migge i au, ond wenn´s de Buckel nuff ghot.“ Für Nicht-Schwaben: „Da hat mein Vater gebremst, da bremse ich auch, und wenn es den Berg hinauf geht“.

Man ärgerte sich also sehr über die Neuerung, die der Gemeinderat und der Schultes da beschlossen hatten.

Und wenn der Nehrener Bürger verärgert ist, dann wird es böse. Denn wie gesagt: Hass und Niedertracht sind schwer zu bändigen!

----- Dramatische Zuspitzung -----

Da gab es eingeworfene Schaukästen, kotbeschmierte Häuser, zerstochene Reifen, stillos gefälschte Leserbriefe und Drohungen selbst gegen Kinder und anonyme Briefe. Auch das Wohl der Kinder wurde instrumentalisiert und manche Leute sind sogar aus ihrem Kleintierzuchtverein ausgetreten - sagt man!
Welche Abgründe noch kommen, ist also offen.

----- Die (für einige) unerwartete Wendung -----

Anders aber ist es mit dem reflexhaften Dagegenschießen in Kombination mit der Spitzendeckenharmonie durchaus. Und so kam es am 15. April 2018, dass der Gemeinde und den Dafürwortern einer verkehrsberuhigten Zone etwas gelungen ist, was noch vor 30 Jahren niemand für möglich gehalten hätte: sie haben bekommen, was sie wollten - indem sie forderten, was vermessen war! Ehrlich gesagt: das klingt ein bißchen nach Strategie - war aber bestimmt nur Zufall!

----- Das Schauspiel: WIR sind das Volk! -----

Das Etablieren einer verkehrsberuhigten Zone mitten in einem Dorf voller Raser, Autofahrer und Blechkutschenfetischisten, in der sich 30 Jahre alle gegen eine Eingrenzung ihrer persönlichen Freiheit wehrten, schien unmöglich. Vor allem, wenn sie von dem Gemeinderat gewollt ist. Da MUSS man ja dagegen sein.

Was also tun? Beantragt man eine Spielstraße, ist ganz klar, dass sich mindestens alle Autofahrer aufschwingen würden.

Tut man gar nichts, bleibt im Dorf alles, wie es ist - das Tempo ist auf 30 reduziert, alle fahren 50 bis 70 und so richtig im Ort aufhalten will sich keiner. Schlecht.

Also muss man fordern, was wirklich verrückt ist - die erste Fußgängerzone des Tals, auf 30 Metern - und das ohne Geschäft. Klingt ein bißchen verrückt - fanden die DaGegna auch, und plötzlich waren sie alle Demokraten und mussten bei einem Bürgerentscheid dem gemeinderat zeigen, wo der Hammer hängt. Also wenigstens den Linken! Den Bürgerlichen und Christdemokraten, die sich ebenfalls für die Variante "Platz vor Straße" ausgesprochen hatten, muss man entweder Willenlosigkeit oder andere Gründe mentaler Absenzen nachgesehen haben - denn die wurden zumindest nicht öffentlich angegriffen. Sei's drum - der Rat beschloss also: Autos weg von dieser Straße und der Mob tobte. Unter der Gürtellinie, jenseits aller Argumente und letztlich oftmals stillos. Aber: die Harmoniesucht. Diese Harmoniesucht zusammen mit dem krankhaften "DaGegen" treibt zuverlässig Blüten und ist wie gesagt außerordentlich kalkulierbar, denn schon bald schwangen sich im Hintergrund des Mobs die Friedensengel - alte Gemeinderäte, seit 23 Jahren ruhende Ex-Bürgermeister und pensionierte Verwaltungsfachangestellte - auf. Alles akzeptierte Koryphäen der Autolobby und der chronischen Nehrener Neuzeitverweigerer, die unterstützt durch einen unabhängigen Verkehrsplaner zu dem Schluss kamen: Der Gemeinderat hat Mist gebaut - einen PLATZ braucht doch keiner. Aber so ein bißchen weniger Verkehr, also - da wäre doch das Friedensangebot, damit alle glücklich werden und niemand mehr die Geranien des Nachbarn vergiften muss: eine SPIELSTRAßE. Das wäre doch ein Kompromiss. Ein TOLLER Kompromiss - der natürlich deswegen toll ist, weil er NICHT vom Gemeinderat kommt (dessen Vorgenerationen ja schon nur Blödsinn gemacht hatten!). Also schrien die DaGegna: WIR sind das VOLK - und WIR WOLLEN EINE SPIELSTRAßE. KEINEN PLATZ!

----- Abgesang -----

Nun, wie das Gemeinderäten - auch den linken! - so ist: der Klügere gibt nach (und lässt die echte Arbeit die anderen machen).

Und so klärt sich dann auch, wieso die Dafürworter des Platzes schon die ganze Zeit davon sprachen, dass das Aufbegehren gegen die anvisierte Fußgängerzone ein echter Schwabenstreich werden sollte......... denn eins war klar: Die Dafürworter KONNTEN nur gewinnen.
DANKE NEHREN - DANKE, DaGegnAs - für eine richtig geile Spielstraße, die Ihr selber wolltet. Mit Tempo 4 - 7 km/h (stand heute in der Zeitung!) - Ich werde dort Fußballspielen lernen!

----- Epilog -----

Sollte an der Redensart etwas dran sein, dass entsprechende Motorgeräusche umgekehrt relational zur Potenz der Fahrer stehen, muss man sich hier keine Sorgen machen: das Problem des Starrsinns wird sich biologisch selbst lösen, Nehren wird aussterben!